Wieland Schmied
Begegnung mit Samuel Beckett in Berlin
Vorbemerkung


Samuel Beckett habe ich im Spätsommer 1978 in Berlin getroffen und durfte eine Zeitlang beobachten, wie er sein ‹Endspiel› mit Rick Cluchey probte, dem Gast des Berliner Künstlerprogramms im daad (für das ich damals tätig war). Später habe ich Beckett nicht mehr wiedergesehen. Er bat mich einmal während der Proben – als er bemerkte, daß ich mir Notizen machte –, ihm meinen Text zuzusenden, um ihn lesen zu können. Ich hatte den Eindruck, daß das mehr war als nur eine Floskel der Höflichkeit, wenngleich Beckett viel von distanzierter Höflichkeit hielt. Noch heute meine ich, daß ihn wirklich interessierte, was sich ein unbeteiligter Zeuge über seine Theaterarbeit notierte.

Ich habe mir damals während der Proben zu ‹Endspiel› jedenfalls viele Notizen über meine Beobachtungen gemacht. Ich dachte zuerst an einen Zeitungsaufsatz, doch erschien mir das, was ich da als Zeuge miterleben durfte, immer komplexer, und meine Aufzeichnungen wuchsen sich schließlich zu einem kleinen Buch aus. Ich habe meine Notizen dann erst fünfeinhalb Jahre später, im Winter 1983/84, für das Berliner Literarische Colloquium – Walter Höllerer, Harald Hartung, Norbert Miller – zu einem fortlaufenden Text zusammengefügt. Beckett hat auf seine Zusendung nicht mehr reagiert, sie ist wohl auch zu spät erfolgt.

Sehr genau erinnere ich mich noch an eine Abendeinladung in die Wohnung Rick Clucheys in der Uhlandstraße. Er hatte zu einer Cocktailparty für Samuel Beckett gebeten (der selber lieber anonym geblieben wäre, jede Art von Publicity, selbst die in kleinstem Kreis, war ihm zuwider), und es wurde dann ein zwangloses Beisammensein daraus. Fotografien, alle etwas unterbelichtet, zeigen noch die verrauchte Atmosphäre in Ricks Wohnzimmer. Beckett hatte ein wenig getrunken (es war wirklich ein zwangloser Abend geworden, und man ließ den Dichter in Ruhe). Aber er hielt sich ostentativ aufrecht und schwankte kein bißchen. So begegnete ich ihm dann zu vorgeschrittener Stunde auf dem Gang. Er trat nahe an mich heran, als wollte er mir etwas anvertrauen. Wir hatten zuvor auf der Couch nur ein paar belanglose Sätze gewechselt. Ich war gespannt, was er nun sagen würde, eine philosophische Lebensweisheit, ein sarkastisches Bonmot?

«Mr. Schmied», sagte er, «I have to you a very old question» – erst später dämmerte mir die kleine Anspielung auf die ‹Endspiel›-Proben des Nachmittags –, und dann kam schon seine entscheidende Frage: «Where is the toilet?» Solche Belanglosigkeiten sind mir in Erinnerung geblieben. Aber ihre Wiedergabe darf nicht verdecken, wie viel mir die Begegnung mit Beckett bedeutete und wie sehr mich seine Persönlichkeit beeindruckt hat. Durch eine glückliche Fügung konnte ich tiefe Einblicke in das Wesen Samuel Becketts gewinnen, die gerade in einem Augenblick großer emotionaler Spannung möglich wurden. Was seine Arbeit betraf, war Beckett von einer durch nichts zu erschütternden Unerbittlichkeit. In der Artikulation seiner Texte mußte jeder Ton «sitzen», jede spielerische Geste mußte den verzweifelten Ernst durchschimmern lassen, der hinter ihr stand und sie bedingte.

Das alles war zu erwarten gewesen, wenn man Beckett als Regisseur in eigener Sache agieren sah. Aber in Berlin war ein für mich überraschendes, unerwartetes Moment hinzugekommen – Becketts Beziehung zu Rick Cluchey. Das war mehr als unverbindliches Wohlwollen. Es war ein Verständnis für den anderen, das mit Fürsorglichkeit und Verantwortung verbunden war, vielleicht darf man von väterlichen Empfindungen eines Mannes sprechen, der keine leiblichen Kinder gehabt hat. Und dieses Verständnis schloß ein, daß Beckett wußte und akzeptierte, daß Rick Cluchey seinen Text anders begreifen mußte und anders darstellen wollte, als er ihn gemeint hatte. ‹Endspiel› war für Beckett wirklich ein Endspiel. Für Rick Cluchey war es ein Versprechen, der Anfang einer wunderbaren Sache, die Leben heißt. Die unerbittliche Treue zu seinem eigenen Werk siegte in Beckett – aber, so schien mir, dem Menschen Beckett war das nicht ganz recht, und er empfand so etwas wie Mitleid für Rick, der ihn so anders, so «falsch» interpretieren wollte. Wie das im einzelnen zuging, und was dahinterstand, habe ich versucht, in meinen Aufzeichnungen festzuhalten. In einem besonderen Augenblick von Becketts Leben durfte ich Zeuge eines eigenartigen Vorgangs sein, von dem ich hier berichten will.

Im Spätsommer 2005
Wieland Schmied

 
Wieland Schmied: Begegnung mit Samuel Beckett in Berlin. Rimbaud-Taschenbuch Nr. 28. Rimbaud-Verlag, Aachen 2006. 72 Seiten. ISBN 978-3-89086-681-9

 

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